Sunday, November 15, 2009

Aus: Ich schau dich an

1

Wir haben Gesichter,

wir tragen sie auf unseren Schultern,

in unseren Personalausweisen und

in unseren Bildern.

Wir haben Gesichter,

Wir zerreißen sie,

wir bewahren sie,

wir verstecken sie

und dann zeigen wir sie vor.

Sie sind uns vertraut,

und dann leugnen wir sie.

Wir lieben sie

und hassen sie

Wir haben Gesichter,

die wir kennen.

Wir sagen:

Kennen wir sie ?

2

„Dort irgendwo

ist immer jemand, der uns ähnelt ,“

sagte die junge Prostituierte

und lächelte selbstbewußt.

Sie schaute aus dem Fenster

als ob sie ihren Traum,

einen Baum voller Früchte,

erblickte.

20

Ich weiß,

ich hätte ihn nicht

meine Brüste enthüllen lassen sollen.

Ich wollte ihm nur zeigen,

daß ich eine Frau bin.

Ich weiß,

ich hätte ihn nicht

sich entkleiden lassen dürfen.

Er wollte mir nur zeigen,

daß er ein Mann ist.

21

Mit Sanftheit

entferne ihre Schleier.

Zärtlich

berühre ihren Körper.

Vielleicht ist sie eine einfache Frau,

aber bestimmt ist sie

eine verlassene Frau.

22

Er enthüllte mir

seine Nacktheit,

den Hunger seines Körpers

und seiner Seele,

alles,

was das Leben hinterließ:

Pickel,

Wunden,

Schönheit und Häßlichkeit.

Sie bedeckte ihn

Mit dem Tuch der Begierde.

56

Alte Kleider

füllen die Schränke.

Kinder kehren abends zurück

mit Lärm

und schlechten Ergebnissen.

Der Ehemann hatte sie verlassen,

und der Liebhaber

hat keine Zeit mehr.

58

Eine Frau

geht in ihrem Haus umher

wie ein Gespenst.

Niemand versteht,

was in ihr vorgeht.

Sie sucht darin Schutz

vor Kälte und Regen

und kehrt ihm den Rücken zu

wie eine undankbare Ehefrau.

59

Schweigen umhüllt

das dunkle Haus

wie ein neuer Geliebter.

Die Frau liegt in dem großen Bett,

wartet verzweifelt

auf den Schlaf,

der sie auch verlassen hat.

99

Immer, wenn

ein Mann mich verlässt,

werde ich schöner.

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Aus: Rote Kirche auf weißen Marmor

5

Ich warte.

Auf wen warte ich?

Auf einen Mann,

der mit Blumen und schönen Worten kommt,

einen Mann,

der mich anschaut,

mit mir redet

und mir zuhört,

einen Mann,

der meinetwegen weint.

Aus Mitleid

Liebe ich ihn.

7

Ein Klopfen an der Tür.

Wer ist das?

Ich kehre den Staub meiner Einsamkeit

unter meinen Teppich.

Ich bringe mein Lächeln in Ordnung

Und öffne die Tür.

8

Ein Fremder schaut mich an.

Ein Fremder spricht mit mir.

Ich lächele einem Fremden zu.

Ich spreche mit einem Fremden.

Ein Fremder hört mir zu.

Vor seiner

unschuldigen Trauer

weine ich

um die Einsamkeit,

die die Fremden zusammenführt.

9

Sie betreten unser Leben

wie kleine Bäche.

Wir ertrinken darin

und wissen nicht mehr,

wer uns Wasser

und Salz gab,

wer uns

diese Bitterkeit hinterließ.

20

Ich tötete meinen Vater

in dieser Nacht

oder an diesem Tag,

ich weiß es nicht mehr.

Ich flüchtete mit einem Koffer

voller Traüme ohne Gedächtnis

und mit einem Bild,

das uns zusammen zeigt,

wie er mich auf dem Arm trug,

als ich noch klein war.

Ich begrub meinen Vater

in einer schönen Muschel

und warf sie in einen tiefen Ozean.

Aber er entdeckte mich

unter dem Bett versteckt,

zitternd

vor Angst und Einsamkeit.

25

Ist es mein Beruf,

ewig eine Frau zu sein,

die deine Füße wäscht

und sich mit Blumen schmückt,

wenn du kommst?

45

Er hat zwei Frauen,

eine schläft in seinem Bett,

die andere im Bett seines Traumes.

Er hat zwei Frauen,

die ihn lieben,

eine wird alt neben ihm,

die andere schenkt ihm ihre Jugend

und vergeht.

Er hat zwei Frauen,

eine im Herzen seines Hauses,

die andere im Haus seines Herzens.

103

Wie Salzkörner

glänzten

und schmolzen sie.

So gingen die Männer,

die mich nicht liebten.

(aus dem Arabischen von Suleman Taufiq)