Aus: Ich schau dich an
1
Wir haben Gesichter,
wir tragen sie auf unseren Schultern,
in unseren Personalausweisen und
in unseren Bildern.
Wir haben Gesichter,
Wir zerreißen sie,
wir bewahren sie,
wir verstecken sie
und dann zeigen wir sie vor.
Sie sind uns vertraut,
und dann leugnen wir sie.
Wir lieben sie
und hassen sie
Wir haben Gesichter,
die wir kennen.
Wir sagen:
Kennen wir sie ?
2
„Dort irgendwo
ist immer jemand, der uns ähnelt ,“
sagte die junge Prostituierte
und lächelte selbstbewußt.
Sie schaute aus dem Fenster
als ob sie ihren Traum,
einen Baum voller Früchte,
erblickte.
20
Ich weiß,
ich hätte ihn nicht
meine Brüste enthüllen lassen sollen.
Ich wollte ihm nur zeigen,
daß ich eine Frau bin.
Ich weiß,
ich hätte ihn nicht
sich entkleiden lassen dürfen.
Er wollte mir nur zeigen,
daß er ein Mann ist.
21
Mit Sanftheit
entferne ihre Schleier.
Zärtlich
berühre ihren Körper.
Vielleicht ist sie eine einfache Frau,
aber bestimmt ist sie
eine verlassene Frau.
22
Er enthüllte mir
seine Nacktheit,
den Hunger seines Körpers
und seiner Seele,
alles,
was das Leben hinterließ:
Pickel,
Wunden,
Schönheit und Häßlichkeit.
Sie bedeckte ihn
Mit dem Tuch der Begierde.
56
Alte Kleider
füllen die Schränke.
Kinder kehren abends zurück
mit Lärm
und schlechten Ergebnissen.
Der Ehemann hatte sie verlassen,
und der Liebhaber
hat keine Zeit mehr.
58
Eine Frau
geht in ihrem Haus umher
wie ein Gespenst.
Niemand versteht,
was in ihr vorgeht.
Sie sucht darin Schutz
vor Kälte und Regen
und kehrt ihm den Rücken zu
wie eine undankbare Ehefrau.
59
Schweigen umhüllt
das dunkle Haus
wie ein neuer Geliebter.
Die Frau liegt in dem großen Bett,
wartet verzweifelt
auf den Schlaf,
der sie auch verlassen hat.
99
Immer, wenn
ein Mann mich verlässt,
werde ich schöner.
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Aus: Rote Kirche auf weißen Marmor
5
Ich warte.
Auf wen warte ich?
Auf einen Mann,
der mit Blumen und schönen Worten kommt,
einen Mann,
der mich anschaut,
mit mir redet
und mir zuhört,
einen Mann,
der meinetwegen weint.
Aus Mitleid
Liebe ich ihn.
7
Ein Klopfen an der Tür.
Wer ist das?
Ich kehre den Staub meiner Einsamkeit
unter meinen Teppich.
Ich bringe mein Lächeln in Ordnung
Und öffne die Tür.
8
Ein Fremder schaut mich an.
Ein Fremder spricht mit mir.
Ich lächele einem Fremden zu.
Ich spreche mit einem Fremden.
Ein Fremder hört mir zu.
Vor seiner
unschuldigen Trauer
weine ich
um die Einsamkeit,
die die Fremden zusammenführt.
9
Sie betreten unser Leben
wie kleine Bäche.
Wir ertrinken darin
und wissen nicht mehr,
wer uns Wasser
und Salz gab,
wer uns
diese Bitterkeit hinterließ.
20
Ich tötete meinen Vater
in dieser Nacht
oder an diesem Tag,
ich weiß es nicht mehr.
Ich flüchtete mit einem Koffer
voller Traüme ohne Gedächtnis
und mit einem Bild,
das uns zusammen zeigt,
wie er mich auf dem Arm trug,
als ich noch klein war.
Ich begrub meinen Vater
in einer schönen Muschel
und warf sie in einen tiefen Ozean.
Aber er entdeckte mich
unter dem Bett versteckt,
zitternd
vor Angst und Einsamkeit.
25
Ist es mein Beruf,
ewig eine Frau zu sein,
die deine Füße wäscht
und sich mit Blumen schmückt,
wenn du kommst?
45
Er hat zwei Frauen,
eine schläft in seinem Bett,
die andere im Bett seines Traumes.
Er hat zwei Frauen,
die ihn lieben,
eine wird alt neben ihm,
die andere schenkt ihm ihre Jugend
und vergeht.
Er hat zwei Frauen,
eine im Herzen seines Hauses,
die andere im Haus seines Herzens.
103
Wie Salzkörner
glänzten
und schmolzen sie.
So gingen die Männer,
die mich nicht liebten.
(aus dem Arabischen von Suleman Taufiq)